Die Möhlstraße in der Nachkriegeszeit – Shopping-Mall der Schwarzhändler

 

Die Ernährungslage in München nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges war katastrophal. Zwar trat zwischen Herbst 1945 und April 1946 eine leichte Verbesserung ein, doch danach kam es wiederum zu einem Versorgungstief. 1947/1948 erreichte nach einer Missernte die Lebensmittelknappheit in München einen weiteren Höhepunkt. Erst mit der Währungsreform am 20. Juni 1948 vergrößerte sich das Warenangebot in den Läden, Lebensmittel waren aber immer noch knapp und auch der Schwarzhandel blühte weiterhin.

 

Schieber- und Schleichhändler in München

Als Schwarzhandel galt der Handel außerhalb der Bewirtschaftungs-, Versorgungs- und Preisbestimmungen. Darunter fiel auch der Einkauf ohne Lebensmittelmarken oder Bezugsberechtigungen. Daneben gab es den „grauen Markt“. Zu diesem zählte auch der Schleichhandel, durch den sich Händler oder Käufer Vorteile bei Lieferungen oder Einkäufen verschafften. Im Juni 1945 traten die Schwarzhändler noch ungeniert öffentlich auf, später dienten die öffentlichen Plätze hauptsächlich zur Kontaktaufnahme. Als Haupttäter für den Schwarzhandel sah die Münchner Polizei die herumlungernden Ausländer und DPs an. [DPs = Displaced Persons: Personen nichtdeutscher Staatsangehörigkeit, die im Zweiten Weltkrieg von den deutschen Besatzungsbehörden in das Gebiet des Deutschen Reiches verschleppt wurden oder dorthin geflüchtet waren.] Neben ausführlichen Monatsberichten der Kriminaluntersuchungsabteilung geben die Sitzungsprotokolle der Polizei mit der US-Behörde und der Münchner Stadtregierung Auskunft über das damalige Treiben. An vielen der Polizei bekannten Stellen in München (Hauptbahnhof, Isartor, Pasing und vor und in Gaststätten) konnte man die Schieber- und Schleichhändler antreffen.

 

 

Schuhputzer und Schuhcreme-Verkäufer auf dem Schwarzmarkt in der Möhlstraße

 

 

Verlagerung des Schwarzmarktes in die Möhlstraße

Im April 1949 nahm den Berichten der Polizei zur Folge die Möhlstraße und die im dortigen Bereich liegenden Geschäfte beim Schwarzhandel »die erste Stelle« ein. Der Schwarzmarkt in der Möhlstraße und ihren Seitenstraßen gehörte zu dem bekanntesten und langlebigsten Schwarzmarkt in Deutschland. Die nachfolgend zitierten Zeitzeugentexte stammen aus: Jüdisches München, David Stopnitzer, 2004. Der Laden der Eltern, »Feinkost-Stop«, in der Hompeschstraße gehörte zum Anwesen Möhlstraße 44.

 

 

 

 

Die Läden und ihre Besitzer

Im Parterre der Villen, oft auch in den Ruinen, und deren Vorgärten an der Möhl-, Höchl- und Hompeschstraße entstanden ab 1948 um die hundert kleine Geschäfte in Holzbaracken „in Reihe“ oder auch einzelne Gebäude mit Ladenflächen von 14 bis 40 Quadratmetern. Zudem entstanden eine Bar, jüdische Speise- und Bierwirtschaften, ein Café (»Ciro Bar«, »Carmel«, »Astoria«, »Royal“, »Trocadero« und »Alija«) und das Hotel »Bristol«. Im Oktober 1948 hieß es: „Das Aufstellen von Provisorien in den guten Wohngebieten Bogenhausens ist im allgemeinen unerwünscht.“ Die Lokalbaukommission lehnte deshalb auch die Baugesuche ab. Die behelfsmäßigen Geschäfte wurden zum größten Teil von Juden aus Polen und Oberschlesien, aber auch von Griechen, Ungarn und Tschechen betrieben. Gehandelt wurde mit Lebensmitteln, Teppichen, spanischen Orangen, französischem Cognac, englischem Tuch, deutschen Kameras und vielem mehr. »Man muss sich das so vorstellen, dass eilig Holzbaracken errichtet wurden mit Winkeln, Ecken und doppelten Böden, Wänden oder Decken, in denen Ware eingelagert oder auch versteckt werden konnte. Organisationsleute konnten alles besorgen. Und da man nicht den ganzen Platz in seiner Holzbaracke zum Verkauf der Stoffe brauchte, vermietete man noch ein paar Quadratmeter an einen, der mit Diamanten handelte, mit Schmuck, Uhren oder Rasierseife.« 

 

 

 

 

Womit wurde gehandelt?

Neben amerikanischen Zigaretten wurden auf dem schwarzen Mark verschoben: Schnaps, Sekt, verschiedene Kolonialwaren wie Kaffee, Kakao, Zucker, Mehl, Wurst; landwirtschaftliche Produkte wie Getreide, Fleisch, Eier, Butter und andere Fette, aber auch Süßstofftabletten, verschiedenste Stoffe, Schuhe, Eisen- und Stahlwaren, Waschpulver, Damenstrümpfe, elektrische Geräte, Benzin, Ziegelsteine und Morphium. Selbst 80 kg Wolfram und Blöcke aus Uran-Metall wurden bei den Razzien aufgefunden.

 

Woher kamen die Waren?

Gehandelt wurde mit Gütern der Besatzungsmacht, eingeschmuggelten Auslandswaren, Vermögensbeständen und Wertgegenständen der deutschen Bevölkerung, Industrieprodukten, nicht abgelieferten Waren aus der Landwirtschaft, veruntreuten und unterschlagenen Waren aus Handel und Gewerbe, mit Diebesgut, mit gefälschten Lebensmittelkarten, Bezugsscheinen und Dollars sowie mit abgezweigten Rationen der DPs. Die in Lagern lebenden DPs (bis zu 6000 Personen je Lager) erhielten nämlich neben Essen und Kleidung auch Genussmittel, Luxuswaren und Care-Pakete. In den Lagern vermutete man auch die Druckereien für die gefälschten Lebensmittelmarken. Die amerikanische Militärregierung verbot ihren Soldaten, mit den bei US-Exportfirmen eingekauften Waren zu handeln. So konnte ein Soldat für weniger als einen Dollar eine Stange Zigaretten erwerben, um dann eine Zigarette für fünf Reichsmark, oder eine Stange für 1000 Reichsmark weiterzuverkaufen. »Es gab keine Baubehörde, kein Gewerbeaufsichtsamt, nicht so etwas wie bauliche Auflagen, Nutzungs- oder Zulassungsbestimmungen, keine polizeiliche Aufsicht. Unter den Pionieren des Lebensmittel-Einzelhandels hatten meine Eltern einen festen Platz: ‚Feinkost-Stop‘ in der Hompeschstraße. Das Warenangebot im Geschäft meiner Eltern bestand fast ausschließlich aus amerikanischen Beständen. Kakao von der Firma Rowntree, englische Cadbury-Schokolade, Lyon‘s Kaffee oder Maxwell-Kaffee, Zigaretten, Konserven, alles, was das Herz begehrte. Vieles war Ware aus dem PX, mit der die Amerikaner handelten.«

 

 

 

 

 

Die Macht und Ohnmacht der deutschen Polizei und der Behörden

Unmittelbar nach Kriegsende, im April/Mai 1945 übernahm das Public Safety Office (Büro für die öffentliche Sicherheit) der US-Truppen die Polizeiaufgaben im Besatzungsgebiet. Im August 1945 wurde ein neuer Polizeistab unter dem Präsidenten Franz-Xaver Pitzer berufen und eine eigene Schwarzhandelsdivision innerhalb der Kriminaluntersuchungsabteilung gegründet. Ab dem 30.10.1945 erhielten die bis dahin unbewaffneten Polizisten Schusswaffen. An manchen Tagen kamen bis zu tausend Menschen in die Möhlstraße. Schmuggel, Diebstähle und Glücksspiele verbreiteten sich zunehmend. Die DPs unterstanden der amerikanischen Polizeigewalt, so dass die Polizei keine Befugnisse besaß, einzuschreiten. Auch war der deutschen Polizei der Zutritt zu den DP-Lagern verboten. Ab Sommer 1949 übte die US-Besatzungsmacht vermehrt Druck auf die Münchner Polizei aus, damit sie stärker gegen den Schwarzhandel vorginge. Am 13. Juni 1949 kam es zu einer Besprechung im Amtszimmer des Münchner Bürgermeisters von Miller, bei der er den von Oberst Kelly, dem Münchner Stadtkommandanten, geäußerten Wunsch bekannt gab, dass gegen die unhaltbar gewordenen Verhältnisse in der Möhlstraße eingeschritten werden solle. Da in den meisten Fällen die zur Ausübung selbstständigen Handels notwendigen gewerblichen Anmeldungen vorlagen, hätte man höchstens auf die Einhaltung der Ladenschlusszeiten und der Sonntagsruhe dringen können. Doch diese Forderungen waren bei den amerikanischen Dienststellen schwer durchzusetzen. Ein Vorgehen, im Wesentlichen auf baupolizeiliche Geschichtspunkte gestützt, versprach mehr Erfolg. „Ein Großteil des Handels spielte sich draußen auf der Straße ab. Da konnte es passieren, dass jemand mit einer Tasche ins Geschäft gestürmt kam, um sie eilig in einem Versteck zu verstauen, weil draußen eine Razzia stattfand. Manchmal ging es im Laden zu wie in einem Taubenschlag. Der Vater genoss wohl einen vertrauenswürdigen Ruf unter den Straßenhändlern. Sie wussten, dass ihre Tasche bei ihm gut aufgehoben war und das sie sie wiederbekamen, wenn die Razzia draußen vorbei war.“ „Wenn nicht genügend Zeit war, um Ware und Geld in ein sicheres Versteck zu bringen oder alles einem Dritten anzuvertrauen, brachte man sein Hab und Gut zu der Kastanie, die heute noch im Garten des Bogenhausener Hofs steht. .... Die Legende sagt, dass dieser Baum im Laufe der Jahre einige Milliarden an Geld gesehen hat. Geld, das nach besagten Razzien von seinen Eigentümern wieder abgeholt wurde.“

 

 

Der "Bogenhauser Hof" 1951

 

 

 

Die Großrazzia am 1. Juli 1949

Von 1949 bis 1954 fanden tägliche Kontrollen durch die deutsche Polizei in der Möhlstraße und Umgebung statt. Die Aktion am 1. Juli 1949 geschah mit ausdrücklicher Erlaubnis des Münchner Stadtkommandanten, Oberst Kelly. Das Gebiet Möhl-, Siebert-, Händel-, Maria-Theresia-, Neuberghauser- und Ismaninger Straße wurde in fünf Einsatzgebiete aufgeteilt. Zu der über 500 Mann starken Einsatztruppe gehörten auch 24 berittene Polizisten. Über die stattgefundene »Straßenschlacht« gab es verschiedene Versionen: zum Einen den Polizeibericht, zum Anderem die Zeitungsberichte: »die Beamten hätten zufällig aufgegriffene Zuschauer blutig geschlagen« und »regelrechte Jagd auf die wenigen Juden gemacht«. Es gab zwei verletzte Demonstranten gegenüber sechs verletzten Polizisten. Bei der Razzia beschlagnahmte man in der Ruine an der Höchlstraße 3, in den Gärten der Villen Möhlstraße 31, 40 und 46 Waren, meist Kakao, Schokolade, Kaffee und Zigaretten. Zudem wurden 6 Aktentaschen, eine Schreibmaschine und 7780 Stück Zigaretten verstreut aufgefunden. Bei der Durchsuchung des Lokales »Astoria« fand man unter anderem 328,5 kg nicht verzollten Kakao und im Kiosk an der Lortzingstraße stellte man mehrere Kisten, 26 Kartons und 118 Pakete unverzollte Schokolade und 50 Care-Pakete sicher. Im Polizeibericht Ende Juli 1949 ist zu lesen: »Im Bereich der Möhlstraße entwickelt sich wieder ein geregelter Geschäftsverkehr. […] Für die verbrecherischen Elemente ist zur Zeit dort kein Betätigungsfeld mehr.« Aber bereits im August hieß es: »Seit dem 10.8. sind im verstärkten Ausmaße all jene obskuren Gestalten, die nach der Polizeiaktion vom 1. Juli das Gebiet der Möhlstraße geflissentlich gemieden haben, dorthin wieder zurückgekehrt.« Durchschnittlich nahm die Polizei 30 Anzeigen im Monat auf. Oft erstatteten die Geschädigten aber keine Anzeige, da sie befürchteten, sich selber strafbar gemacht zu haben.

 

Das Ende der Geschäfte an der Möhlstraße

Bei einer weiteren Großrazzia am 25. Oktober 1950 waren laut Zeitungsberichten 1000 Polizisten und Zollfahnder im Einsatz. Diesmal kam die Razzia für die Händler völlig überraschend. Nach Angaben der Süddeutschen Zeitung vom 26.10.1950 beschlagnahmte man an diesem Tag 300 Zentner illegale Waren. Im März 1951 kam es zu einer Gesetzesänderung, die DPs unterstanden nun, abgesehen von Ausnahmen, grundsätzlich der deutschen Gerichtsbarkeit. Die Anzahl der noch vorhandenen Betriebe im Gebiet Möhlstraße sank bis November 1953 auf 53. Viele der Geschäftsleute waren inzwischen ausgewandert. Während der Schwarzmarkt zurückging, nahmen Raub, Taschendiebstähle, Betrügereien zu. Ausschnitt aus dem Zeitungsbericht des »Münchner Merkur« vom 19.2.1953:

 

»In der Gegend um die Möhlstraße gibt es auch ein „Hotel“, an dem die üblichen Hinweisschilder fehlen. Die Zollfahnder mussten auch diese Gebäude schon mehrmals unter die Lupe nehmen. Bei einem Rundgang durch die Zimmer, blieben die Beamten plötzlich stehen. Der Fußboden sah ein bisschen komisch aus. Mühelos ließen sich die Bretter abheben, und darunter fanden sich 30.000 Zigaretten. Ähnliche Entdeckungen machten die Zollfahnder im Speicher und in verschiedenen Garderobenschränken des „Hotels“. Einige Zeit später waren die Beamten wieder dort auf „Visite“. Dienstbereit begleitete sie ein Angestellter des Hauses. „Bitte nicht stören, dieser Gast schläft und ist eben erst zu Bett gegangen“, meinte der Mann beschwörend, als sich die Beamten gerade dieses Zimmer einmal näher ansehen wollten. Der wackere Schläfer, der übrigens noch die Schaftstiefel anhatte, mußte aufstehen und die Beamten umkreisten mißtrauisch das etwas zu hoch geratene Bett. 70.000 amerikanische Zigaretten waren fein säuberlich zwischen Unterbett und Matratze versteckt.“ Die Münchner Abendzeitung vom 29. Mai 1954 schrieb: „Kioske sollen verschwinden: Mehr als die Hälfte aller Verkaufsbuden in der Möhlstraße müssen innerhalb der nächsten beiden Monate abgerissen werden. Die Besitzer dieser Läden werden in den nächsten Tagen von der Stadtverwaltung eine entsprechende Mitteilung erhalten. Vertreter der Lokalbaukommission, des Gesundheitsamtes und des Amtes für öffentliche Ordnung haben die Verkaufsläden an der Möhlstraße besichtigt. Bei einem großen Teil der Läden stellten sie zum Teil schwere Verstöße gegen die Bau- und Lebensmittelgesetze fest.«

 

Bis zum Jahre 1960 wurden dann die letzten Kioske in der Möhlstraße abgebrochen.

 

Karin Bernst, NordOstMagazin 2016

 

 

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Abbildungen von oben nach unten: 

Der Andrang zum Schwarzmarkt in der Möhlstraße war außerordentlich groß. Es gab vier Lokale für hungrige und müde Passanten. Die Tram in der Ismaninger Straße bekam den Spitznamen "Palestine-Express". Hier Behelfsläden an der Gabelung Möhl-/Weberstraße; hinter den Buden Aufbauarbeiten an der beschädigten Villa Oberkamp (Möhlstraße 44). Quelle: Stadtarchiv München

Schuhputzer in der Möhlstraße. Quelle: Stadtarchiv München

Planausschnitt Möhlstraße mit den Behelfsläden der Nachkriegsjahre. Quelle: Stadtarchiv München

Gute Geschäfte und beginnenden Wohlstand signalisieren zahlreiche Autos vor den Behlefsläden Ecke Möhl-/Höchlstraße in der Nähe der »Devisenbörse« (ehemals Villa Winklhofer)

Obst - Feinkost - Südfrüchte - was das Herz begehrt - und selbstverständlich Genussmittel wie Weine, Liköre und Schokolade waren in den Buden an der Möhlstraße nach 1945 erhältlich. Quelle: Stadtarchiv München

Das Cafe-Restaurant an der Ecke Höchlstraße.

Der "Bogenhauser Hof", 1951. Quelle: Stadtarchiv München