Industrielle Umwälzungen

Die Erweiterung Münchens durch Eingemeindungen ab 1854 und das explosionsartige Bevölkerungswachstum durch die Industrialisierung verursachten einen anhaltenden Bauboom. Die Eisenbahn, der Strecken- und der Maschinenbau und die Entwicklung der Großbrauereien, der neuzeitliche Kirchenbau - man denke nur an die neuen "Vorstadt-Dome" in Haidhausen, Giesing und der Au - und natürlich der Wohnungsbau, die Entstehung von Mietswohnungen in jeder Qualität und Größe, verursachten einen wachsenden Bedarf an Baumaterialien, vor allem an Ziegelsteinen.

 

In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatten sich die Ziegeleien über Bogenhausen und den Priel ausgebreitet. Nur eine Ziegelei existierte bereits in Zamdorf bzw. Steinhausen (Streicher-Hof). Nach der Jahrhundertmitte fraßen sich die Produktionsstätten weiter nach Norden und Osten, erreichten aber den Ort Daglfing selbst nicht, da er nicht mehr auf der Lehmzunge lag, also nicht im Besitz des begehrten Grundstoffes war.

 

 

Die Münchner Lehmzunge

 

 

Immer schneller wurde die bäuerliche Kulturlandschaft mit ihren Äckern und Wiesen, Ängern und Feldwegen umgewandelt in ein Industriedistrikt, zunächst mit Lehmgruben, Ziegel- und Trockenstädeln, Brennöfen, bald mit hohen Schloten, dann abgeziegelten Kiesböden, Kiesgruben, Quetschwerken und Dammwegen. Damit kam es zum Einzug neuer Bevölkerungsteile, der Entstehung neuer sozialer Schichten, ein umfassender sozialer Wandel vom Agrar- zum Industrieland.

 

Die ersten italienischen "Gastarbeiter"

Neben die Bauern traten handwerklich-bürgerliche Unternehmer, aus Bauern selbst wurden "Loambarone". Aus Knechten und Mägden wurden Ziegelarbeiter, Fuhrknechte, weibliche Dienstboten in den neubürgerlichen Unternehmerhaushalten. Durch Lohnarbeit entstand neue Kaufkraft, durch Kapitalisierung Investitions- und Veränderungsbereitschaft, neue Werte, eine neue Mentalität. Der wachsende Bedarf an Ziegelsteinen nach der Jahrhundertmitte brachte auch einen Arbeiterkräftemangel hervor. Die ortsansässigen Knechte und Tagelöhner, die Zugewanderten aus der Stadt und dem näheren Umland reichten für die schwere Saisonarbeit in den Ziegeleien nicht mehr aus. Gearbeitet wurde im Sommer von Tagesbeginn bis zum Einbruch der Dunkelheit, denn im Winter waren die Ziegeleien nicht produktionsfähig wegen des gefrorenen Bodens. Dies führte - wohl seit den 1860er Jahren - zur Anwerbung italienischer Saisonarbeiter.

 

Die neuen Arbeitskräfte kamen meist aus den Dörfern nördlich von Udine im Friaul oder aus der Nähe von Bergamo. Ganze Familien zogen in zehn Tagesmärschen über Kärnten und Osttirol (Plöckenpass, Gailbergsattel, Felbertauern) zu den Sommerarbeitsplätzen nach Bayern. Ab 1877 hatte Udine dann einen Bahnanschluss über Salzburg und Villach; die Fahrtkosten trugen die Ziegeleibesitzer. Besonders sprachbegabte Italiener konnten es zu sogenannten "Ziegelakkordanten" bringen, die als Vorarbeiter für den geregelten Ablauf der Produktion verantwortlich waren und auch als Werber für das Arbeiterkontingent des Folgejahres auftraten. Die Zahl der italienischen Saisonarbeiter im Münchner Nordosten dürfte bis um die Jahrhundertwende zwischen 500 und 1200 Personen ausgemacht haben. Aus dieser großen Zahl und der schweren Arbeit resultierten zahlreiche soziale Konflikte und nicht etwa nur Raufhändel mit den einheimischen Burschen.

 

 

Lehmabbau in Oberföhring um 1900

 

 

Soziale Missstände

Das Interesse der Saisonarbeiter war es, durch Stückakkord möglichst viel zu verdienen, um den arbeitslosen Winter überstehen zu können. Insofern standen Pausen und freie Zeiten (jeder 2. Sonntag), gemilderte Bedingungen für Frauen und Jugendliche, Verbot der Kinderarbeit (unter 13 Jahren) oft nur auf dem Papier. Selbst die elementarsten Lebensbedürfnisse wie Essen und Schlafen waren auf ein absolutes Minimum beschränkt: tagaus, tagein gab es zwei Mal Polenta (Maisbrei) als Einheitsverpflegung. Schlafstellen waren die luftigen Trockenstädel oder bei Kälte die Oberböden der Brennöfen.

 

 

 

Pfarrer Carl Riedl beschrieb 1860 die Ziegeleiarbeiter im Seelsorgsbericht seiner Gemeinde Oberföhring folgendermaßen:

 

(...) dieser Dienstbothenklasse schließt sich eine andere Elite der Menschheit an: die Ziegelarbeiter. Wenn irgendwo läßt sich an diesen Lehm-Arbeitern das Misere unserer Zeit absehen. Sie sind Christen und glauben nichts, sie arbeiten und haben nichts. (...) In der Kleidung sind sie mehr als demüthig und können sich an Feiertagen kaum ans Tageslicht wagen. Ein Arbeiter wanderte umher mit einem aus einen Getreidesack gemachten Kittel, auf dessen Rücken noch zu lesen war: 'Pschorr 1855'. So gestaltet in Unglaube, Armuth und Verkommenheit ist der Arbeiter in der Ziegelhütte, und gibt es Ausnahmen, so ist die Zahl nicht groß. Der Ackerbauer jammert um fähige Arbeiter, aber die Ungebundenheit des Lebens in der Ziegelei raubt sie ihm. Und fünf Jahre später notiert er: "Die mit einmal erscheinenden Italiener hierum mindern die Arbeitslöhne, lehren große Selbstentsagung, Arbeitsamkeit und Enthaltsamkeit. Diese Leute, lauter männliche Arbeiter arbeiten von früh bis späte Abend, nur Polenta und etwas Käse genießend, leben ruhig und finden solchen Beifall, daß unsern Arbeitern an ihnen hohe Konkurrenz und Demüthigung erwachsen mag." (Aus: Karin Bernst, "Oberföhring. Das Dorf und seine Bewohner im 19. Jahrhundert", München 2000.)

 

Durch die Rationalisierung und Mechanisierung der Ziegelherstellung kam es um die Jahrhundertwende zu Arbeitserleichterungen, aber auch zu Produktionssteigerungen. Der Dampfbagger mit Kettenband und Schürfeimer löste Pickel und Schaufel ab, die Feldbahn mit Dampflokomotive den Handschubkarren, die maschinelle Strangpresse den Handstrich, der Ringofen das alte Brennverfahren im einfachen Feldbrandofen nach Art der Kohlenmeiler. Die Errungenschaften der Arbeiterbewegung und der öffentlichen Fürsorge begannen sich auch in den Ziegeleien auszuwirken: kürzere Arbeitszeiten, feste, eigene Unterkünfte, den Hygienevorschriften entsprechende Sanitäreinrichtungen wurden - oft gegen das Widerstreben der Ziegeleibesitzer - von der Gewerbeaufsicht eingefordert.

 

 

Ziegeleiarbeiter um 1930

 

 

Im Zusammenhang mit Baukrisen schon vor dem Ersten Weltkrieg, dann erst recht im Krieg selbst, blieben die italienischen Saisonarbeiter aus. Wenige haben sich hier sesshaft gemacht, die meisten sind in ihre Heimat zurückgekehrt. Nach einem kurzen Aufleben dieser Arbeitskontakte während der Zeit des Nationalsozialismus ließ der Zweite Weltkrieg  die Beziehungen wieder abbrechen und erst mit dem "Wirtschaftswunder" Ende der 1950er Jahre kamen wieder "Gastarbeiter" in größerer Zahl aus Italien nach Deutschland. 1959 starb in Oberföhring der ehemalige Friauler Ziegelmeister Armellini im Alter von 98 Jahren.

 

 

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Literatur: 

Abbildungen: